Fast wie zurzeit an jedem Morgen treffe ich bei meiner Ankunft im NZB auf Kinder.Heute haben sich zwei Schulklassen angemeldet. Ich würde mich freuen, wenn sie den Aufenthalt hier in vollen Zügen und ohne Regen genießen könnten.
Als ich aus meinem Bürofenster sah, konnte ich beobachten, wie sich ältere Kinder im Kreis versammelten, alle eine Schnur in der Hand. Die Schnüre treffen sich in der Mitte. Bilden eine stabile Grundlage, so dass ein Ball darauf balanciert werden kann.
Ich hole meine Kamera und möchte diese Situation festhalten. Auch die Lehrerin spielt mit. Sie ruft mir zu: „Hallo Veronika“. Die Stimme kenne ich. Es ist eine Freundin und frühere Schulkameradin meiner Tochter. Wie doch die Zeit vergeht. Die Kinder sind jetzt erwachsen. Ich vergesse es manchmal.
Hinten am Garten wartet eine andere Klasse auf Annika. Die Lehrerin sagt fast überschwenglich: „Endlich können wir mal wieder hier sein“! Ich bleibe einen Augenblick bei der Klasse und als Annika sich mit den Kindern ebenfalls im Kreis versammelt und sie mit dem Thema vertraut macht, bemerke ich ein Kind, welches abseits auf einem Stein sitzt.
Die Lehrerin hat ihn im Auge, aber sie kann sich nicht kümmern. Die Pädagogin regt sich in mir. Ich frage die Lehrerin, ob ich mich um das Kind kümmern dürfte. Sie nickt.
Ich spreche ihn an. Er ist gleich redselig, so als ob er nur darauf gewartet hätte, dass ihn endlich auch mal einer beachtet. „ Da vorne stehen deine Klassenkameraden, bist du nicht auch einTeil der Klasse“?
„Da geh ich nicht hin, da krieg ich eh gleich wieder eine Strafe“, sagte er in einem Ton der Entrüstung und verschränkt dabei die Arme.
„Du sagst, ich geh nicht hin, krieg eh gleich wieder eine Strafe, wie meinst du das?“
Er erzählt, aus welchem Grund er gleich dreimal zurückgepfiffen wurde. Fast beleidigt, mit einem Hauch des Vorwurfs: „Wie können die nicht bemerken, dass ohne mich nichts geht“!
„Klingt ziemlich selbstbewusst, wie du das sagst“.
„Ich bin ja auch der Chef“!
„Interessant! Wer weiß denn noch alles, dass du der Chef bist“?
Er strahlt: „Meine Eltern“, und nach einer kurzen Pause – „die machen, was ich will“.
„Das hört sich ja interessant an, die machen was du willst. Hast du also bei euch das Sagen“. „Ja, mein Papa kommt ja auch erst um 10.00 Uhr nachts nach Hause“
„Uii, du bist doch noch ein Kind“, sage ich, Kinder in deinem Alter gehen auf dem Bolzplatz, treffen sich mit Freunden, spielen mal einen Streich und lassen sich von den Eltern verwöhnen“.
„Hey, ich bin überhaupt kein Kind mehr, ich bin schon acht Jahre“, erwidert er mit Nachdruck und einer gewissen Empörung. Dabei verschränkt er seine Arme.
„Übernimmst du also zuhause die Verantwortung. Du bringst das Geld nach Hause, hast den Überblick, ob Rechnungen bezahlt sind, sorgst dafür, dass ihr alle etwas zu Essen habt“?
„Nö, das nicht -Naja, mein Papa ist schon auch ein bisschen der Chef, aber ich habe schon viel Geld, ich bin reich“.
„Was stellst du dir unter einem Chef vor“?
„Er hat was zu sagen“.
„Ok, und wenn du etwas zu sagen hättest, was würdest du zuerst als großer Chef ändern? Stell dir vor, du hast wirklich die Macht dafür“?
Er denkt nach. Es fällt ihm nichts ein.
„Ich will doch lieber ganz reich sein“.
„Das ist besser“?
„Ja, ich hab ja auch jetzt schon ganz schön viel Geld“.
“ Wieviel hast du denn“?
„So 100 bis 200 Euro“.
„Gut, dann stelle ich dir noch einmal die Frage: Was würdest du machen, wenn du Chef wärst und ganz viel Geld hättest“?
„Ich würde ein Hotel bauen. Dann wäre ich der Hotelchef. Ich wäre auch gleich noch Bademeister. Einen Swimmingpool hätte ich nämlich auch“.
„Ich verstehe nicht recht, du willst doch Chef sein, dann wäre ein Schwimmmeister das Richtige und das wäre dann dein Angestellter“.
Denkt nach. „Das klingt gut“.
„Ok, jetzt weißt du schon, wovon du träumst. – jetzt kannst du dich auf den Weg machen. Was muss man für eine Berufsausbildung als Hotelchef haben? Reicht da die Grundschule? Meinst du, du weißt schon alles“?
Sagt lange nichts.
„So wie ich dich verstanden habe, bist du ja mehr damit beschäftigt in den Streik zu gehen, weil man dich eh auf die „Strafbank“ setzt, wie du es vorhin genannt hast“.
„Ich war doch nicht schuld. Diiie haben mich geärgert und dann habe ich zur Strafe die Mona geärgert und dann heißt es gleich wieder: der Martin (alle Namen geändert) war es, das ist ungerecht“.
„Hast du einen guten Freund in der Klasse“?
„Ja, den Dennis“.
„Wenn du Dennis fragen könntest, warum er so gern dein Freund ist, was würde er antworten“?
Er strahlt: „Dass ich cool bin“.
„Hab ich es mir doch gedacht. Das gefällt dir. Du wärst gerne cool“?
„Ich bin cool!“
„Hm, ich glaube auf dem Weg zum Hoteldirektor genügt es nicht, nur cool zu sein, man müsste auch klug sein“ denke ich“.
„Kennst du den Unterschied zwischen cool und klug“?
„Naja, ich denke schon“.
Und ?
„Also wenn man cool ist, dann … ist man halt cool“.
„Willst du mal meine Antwort dazu hören“?
„Ja“!
„Also cool ist für mich jemand, der denkt!, er ist der Chef“.
„Sag ich doch“!
Dann hast du nicht richtig zugehört. Ich sagte, er denkt, er sei der Chef“.
„Ach so“. „Und wann ist man dann klug“?
„Weißt du es“?
„Nicht richtig, wie meinst du das“?
„Also, klug ist in meinen Augen jemand, der weiß, wann er wirklich Chef ist und wann jemand anderes der Chef ist“.
„Hast du das verstanden“?
„Schon“.
„Wenn ich dich frage: wer ist heute hier der Chef? Was antwortest du dann?“.
„Meine Lehrerin“.
„Wow, ich sehe, du bist wirklich klug“.
„Jetzt kannst du überlegen, wie man Hotelchef wird? „Kann ich auch deinen Nachnamen erfahren“?
Er sagt ihn mir.
„Ok“, sage ich, so in 15 – 20 Jahren werde ich ein Auge darauf haben, ob ich nicht irgendwann mal an einem Hotel vorbeifahre und … “ .Er fällt mir ins Wort: „Ja, da steht dann ein großes Schild mit meinem Namen drauf“.
„Ok, und wenn du jetzt schon mal Hilfe brauchst – ich hab eine Freundin in Italien, die ist Hotelchefin. Ich könnte dir auch ein paar Tipps geben“. „Willst du mal das Hotel sehen“? „Ja, bitte“!
Wir gehen an den Computer und ins Internet.
Ich zeige ihm das Hotel meiner Freundin in Ligurien.
Er freut sich, dass da auch ein Schwimmingpool dabei ist. Seine Augen strahlen.
„So“, sage ich beim Wiedereintauchen in die Wirklichkeit. „Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg“. „Was solltest du als nächstes anpacken“?
Er schaut aus dem Fenster.
„Du möchtest zurück in die Klasse“?
„Ja“.
„Und wie könntest du vorgehen“?
„Ich geh einfach hin“.
„Geht das nicht besser“?
„Wie könntest du es noch anstellen“?
„Ich gehe zu meiner Lehrerin“.
“ Und dann“?
„Jaaaah?“ – Pause
„Soll ich mitkommen“?
Er nickt.
Die Klasse steht im Kreis. Neben der Lehrerin ist noch ein Platz frei. Wir stellen uns dazu. Er wartet, bis sie ihn beachtet. Das finde ich schon mal gut.
Dann fragt er sie: „Frau Nickel, kann ich wieder bei der Klasse sein“.
Sie nickt.
Er atmet tief durch.
Die Klasse macht sich gerade auf den Weg zum Teich.Er rempelt einen Klassenkameraden an. Er deutet auf mich.Ich höre wie er sagt: „Du, die sagt, ich bin cool“.
Und ich ergänze: „Ja, aber heute hat er vielleicht auch verstanden, dass man nicht nur cool, sondern auch klug sein sollte“.
„Kannst du ihm den Unterschied erklären“?
Und er sagt ihm genau das. Er hat verstanden, zumindest theoretisch.
Jetzt kann hoffentlich die Zeit des Übens beginnen. Ich wünsche ihm die rechten Menschen an seine Seite.
Liebe Veronika,
ich finde es spannend dund klasse wie du diesen Jungen zurück holen konntest/durftest in seine Klasse.
Bewusst wird mir dabei in meinem Berufsalltag wie selten ich wirklich die Zeit habe oder manchmal auch mir die Zeit nehme Kindern so zu begegnen und sie aufzufangen , abzuholen da wo sie gerade stehen.
Schön wenn es uns wenigstenes ab und zu gelingt, dafür sollten wir glaube ich dankbar sein.
Dankbar sein ein Wort das wir zu selten benutzen.
Wir sehen leider zu oft was wir nicht geschafft haben.
Ich denke ein anderer wohlwollender Blickwinkel auch auf uns selbst ist sehr hilfreich.
Ich möchte uns Mut machen da hinzusehen und zu sagen, da habe ich es geschafft und das ist klasse.
alles Liebe Ursula
liebe ursula
hast du dich ein wenig auf der blogseite umgesehen. ich freu mich. danke, wenn ich dir dadurch ermöglicht habe eigenen impulsen zu folgen. natürlich merke ich in solchen momenten der begegnung mit kindern, wie sehr ich meinen beruf liebe und wie schön es ist, wenn ich ab und zu auch noch solche situationen erleben darf. ich spüre, dass ich gehört werde und ich spüre auch meinen inneren auftrag.
dankbarkeit gehört ebenfalls zu meinen werten. gerade kam ich von einer woche auszeit aus ligurien zurück. was habe ich mich da oft laut und leise danke sagen hören.
ich danke dir speziell für dein hiersein beim referententreffen. es war eine gute begegnung mit vielen alten bekannten. man spürt, dass du gewohnt bist, dich in solchen gruppen einzubringen. deine impulse, beiträge und sichtweisen sind sehr wertvoll und wertschätzend. ich wünsche mir, dass du uns immer (ob aktiv oder passiv) verbunden bleibst.
liebe grüße
veronika