„Ich bin so froh, dass es weitergeht!“

Es ist Freitagnachmittag. Für einen kurzen Augenblick denke ich, dass es schön wäre, wenn ich meinen Schreibtisch nun aufräumen und ins Wochenende gehen könnte. – Wie gesagt, ich dachte es nur für einen kurzen Moment, denn als ich das Büro verließ traf ich im Eingang auf eine Mama und ihren Sohn. Sie hatte ihn im Arm, es sah so aus, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen und ich hörte gerade noch, wie sie sagte:“ Ich hole dich früher, ich komme schon um halb vier“.
Ich kam mir vor wie zu Kindergartenzeiten, als wir mit sanftem Druck Mütter und Kinder von einander im Abschiedsschmerz trennen mussten. Nur, dieser Junge war mit Sicherheit schon älter als 10 Jahre. Ich meldete mich zu Wort und sagte: „Ich mache dir auch einen Vorschlag. Du kannst jederzeit anrufen, wenn du nach Hause möchtest, nicht erst um halb vier. Aber vielleicht musst du ja gar nicht anrufen, weil es dir gefällt“. Darauf ließ er sich sofort ein und die Mutter konnte getrost gehen. Ich hatte ihn im Auge und sah, wie er ein Foto von mir mit seinem Handy machte. Was er sich da wohl dabei dachte? Noah (Name geändert) war neu. Er stand etwas abseits und beobachtete, wie sich die anderen aus der Gruppe: Kinder stärken fröhlich begrüßten.
Die Gruppe konnte vor zwei Jahren durch eine großzügige Spende von SAP ins Leben gerufen werden. Ich hatte schon berichtet. Leider fanden wir keinen weiteren Sponsoren, so dass wir erst einmal die feste Gruppenzugehörigkeit aufgeben mussten. – Jetzt war es wieder soweit. Eine erneute Spende ermöglichte die Wiederaufnahme für weitere 2 Jahre. – Wir waren gespannt, wie sich unsere Kinder entwickelt hatten.
Jeannine und Annika sind als Gruppenbetreuerin genauso aufgeregt wie die Kinder als es endlich losgeht. Steven (Name geändert – 12 Jahre) strahlte Jeannine an und sagte: “ Ich bin so froh, dass es weitergeht“. Schon sichtet er einen alten Freund und sie gehen aufeinander zu und klopfen sich auf die Schulter.
In der Begrüßungsrunde geht es gleich richtig zur Sache. Sie reden über ihr Leben im Alltag und äußern ihre Erwartungen auf die Gruppenaktivitäten.
Scheinbar ist für einige die Schule ein notwendiges Übel. Sie sehnen sich nach Freiräumen und wollen endlich wieder mal Feuer machen, Bogenschießen und zusammen kochen. Köstlich fand ich folgende Situation. Sven (Name geändert). sagte, für ihn sei die Schule echt blöd. Wenn er könnte, dann würde er die Schule ganz abschaffen. Sein Ton war ernst und klar als er das aussprach. Annika kennt ihn und fragt: „Was willst du später mal machen. Er sagte spontan: „Auto fahren“. Daraufhin Annika:“das wird nicht möglich sein. Wenn niemand mehr schreiben und lesen kann, dann kann man auch kein Auto konstruieren, bauen und du kannst auch nicht die Schilder lesen“. – Stille –  er schaut sie an.
Alle freuen sich, als Annika eine Schatzsuche ankündigt. Ich sah sie vom Fenster aus wuseln und war erstaunt, dass sie alle zusammen blieben und zusammen nach dem Schatz suchten. Ich glaube, da fiel auch den BetreuerInnen ein Stein vom Herzen. Wir hatten uns alle darauf eingestellt, dass es erst einmal wieder längere Zeit dauern würde, bis sie sich zu einer Gruppe zusammen finden würden.
Dann wurde es dunkel und sie trafen sich im Werkraum, um zusammen zu kochen. Kartoffelsuppe und Bratapfel stand auf der Speisekarte.
Der Reihe nach kam immer einer der Gruppe zu mir. Wir hatten vorher besprochen, dass jeder von sich einen Steckbrief erstellen sollte. Es käme uns darauf an, dass sie vor allem etwas von ihren Stärken preisgeben sollten. Da gab es zunächst Widerstand. Leon schrie laut:“ Neeeein, ich will nichts Schreiben. Bitte nein“. Ich sagte, das ich das übernehmen könnte und so hatte ich die exklusive Situation, dass ich jeden ein bisschen besser kennen lernen konnte. Vor uns lag ein leeres Blatt. Unbeschreiblich schön, was dann geschah. Es fiel ihnen so leicht, etwas Positives über sich zu erzählen.  Hier ein paar Auszüge: „Ich kann gut rennen… ich bin schlau… ich kann gut kochen… bitte schreib, dass ich auch gut in Deutsch bin… ich bin froh, dass ich so gute Freunde habe… ich kann gut Vögel am Himmel ansehen, die machen immer so gute Formen – ein Herz oder … du Veronika, kannst du noch schreiben, dass ich auch gut beobachten kann…Ich bin schlau, ich kann gut erfinden, ich reparier gerne… ach, da ist doch noch Platz, da kannst du noch was gutes hinschreiben… Niemals hätte ich das erwartet. Wenn Erwachsene etwa mal aufschreiben sollten, was sie gut an sich finden, dann fällt ihnen meist nicht viel Positives ein. Eher Negatives, stimmts?
Inzwischen war das Essen fertig. Es roch vor allem nach Zimt. Das waren die Bratäpfel. Die Tischmanieren lassen noch zu wünschen übrig, aber sie akzeptierten schnell die Regeln.
Ich fragte, ob ich noch einmal für alle die Steckbriefe vorlesen dürfe. Jeder lauschte und konnte es genießen. 
Die Eltern erlebten teilweise die Schlussrunde mit. Besonders blieben ihre Augen an der Stellwand mit den positiven Aussagen ihrer Kinder hängen. Ein Vater fragte, ob denn die Eltern auch einmal zum Essen kommen könnten, es würde so gut riechen.
Wir sind sicher, dass es für diese Kinder ein gelungener Start war. Freiräume genießen, mit anderen Kindern zusammen etwas unternehmen, etwas über sich selbst erfahren.
Leon. sagte in der Schlussrunde zu mir: „Bitte stelle mir eine Frage. Aber bitte nichts über die Schule“.“Hm“, dachte ich, „was will er“? Ich wiederholte: „Du möchtest, dass ich dich etwas frage? Ehrlich gesagt, hatte ich nicht genau gewusst, was er wollte. Heute weiß ich es. Er hatte in der Vorstellungsrunde nur einen Satz über sich gesagt. Ich fragte nach, ob er nicht mehr erzählen möchte. Nein, sagte er, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Daraufhin stellte ich ihm Fragen und es sprudelte nur so aus ihm heraus. Jetzt denke ich, dass es das war. Er wusste gar nicht, was alles schon auf seiner persönlichen Land- oder Lebenskarte stand.
Im Übrigen, ich hatte Sven. noch einmal gefragt, ob sich etwas an seiner Einstellung über Schule geändert hätte, ob er noch immer die Schule abschaffen wurde. Seine Antwort überraschte uns Erwachsene nicht:“ Nein, das würde ich nicht mehr machen. Ich will ja Auto fahren“.
Und nun raten Sie mal, ob Noah abgeholt werden wollte? Nee, natürlich nicht. Aber das haben Sie sich auch so gedacht oder?

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